Retrospektive »Dritte Wege in der zweigeteilten Welt – Utopie und Unterwanderung« Teil II
Wie es die Kuratorin Sylvia Görke bereits ankündigte: »Die Subversion geht weiter«. Mit dem gut einstündigen Lehrfilm »Eine Sache, die sich versteht (15x)« (1971) bebildern Harun Farocki und Hartmut Bitosmky die Ideen aus Karl Marx‘ »Das Kapital«.
»Haben wir genug Geld?« fragt sich ein junges Paar. Im Auto fahren sie durch eine Umgebung, bei der links und rechts des Straßenrandes immer neue Produkte emporschießen. Alle davon scheinen sie zu begehren, den Kühlschrank so sehr wie die Traumsafari. Da es den beiden jedoch an Zahlungsmittel fehlt, werden sie angehalten, ihre Arbeitskraft in der nahestehenden Fabrik zu verkaufen und »Eine Sache, die sich versteht (15x)« nimmt ihren Lauf. 15 Szenen folgen auf ebenso viele eingeblendete Fragen, wie etwa »Was ist also ein gerechter Lohn?« und Begriffen wie beispielsweise »Enteignung«. In den Erklärsequenzen agieren jeweils zwei bis drei Protagonistinnen und Protagonisten die Ideen aus Karl Marx‘ »Das Kapital« in ganz unterschiedlichen Lebenswelten aus. Mal verhandeln zwei Gesprächspartner den Begriff des Tauschwertes und Fragen: »vielleicht kann man nur schenken, geben?« Und antworten, dass es Verschiedenheiten gäbe, die zu Raub und Gewalt führen. Daher sei gerechter Tausch nach dem Maß der gleichen Arbeitszeit anzustreben. In einer anderen Bilderfolge stellt sich das Geld vor, das mal als Berg Münzen und mal als Bündel Scheine auf der Kinoleinwand zu sehen und zu hören ist: »Ich leite in den Köpfen und Taschen das Zusammenleben an«. Andermal erzählen die Waren: »Wir sind nützlich«.
Mit dem gut einstündigen Lehrfilm schaffen die Regisseure Harun Farocki (1944-2014) und Hartmut Bitosmky (*1982) ein vielseitiges, angesichts des Stoffes bemerkenswert unbeschwertes Schulungsvideo, das bisweilen mit einer Popart-Ästhetik spielt. Dabei folgen die selbsterklärten Marxisten Bertolt Brechts Ideen vom didaktisch-experimentellen Lehrstück. Warum der Film zur Erklärung der herausfordernden Begriffe aus »Das Kapital« nach der Veröffentlichung kaum Anklang fand – das Schulungsvideo wurde niemals für den bestimmten Zweck vorgeführt – bleibt offen. Umso mehr lässt sich der Schwarz-Weiß-Film als Kunststück schätzen, insbesondere dadurch, dass die beiden Regisseure nicht nur mit Akribie den Inhalt bearbeiten, sondern sich auch keine Mühe scheuen für die kurzen Sequenzen immer wieder neue Umgebung zu beleben.
»Eine Sache, die sich versteht (15x)« ist nur ein kleiner Teil der Kompilation »Dritte Wege in der zweigeteilten Welt – Utopie und Unterwanderung«. Mit dem Titel referiert die diesjährige Retrospektive auf das geteilte Deutschland bis 1989 und darauf, wie sich dieser Abschnitt der Geschichte in den gezeigten Perspektiven im Rahmen des Dokumentar- und Animationsfilm-Festivals spiegelt. Die diesjährige Retrospektive widmet sich an sechs Abenden jenen Kunstwerken, die damals (teilweise) nicht vorgeführt worden. Damit beschwört die Filmreihe einen besonderen Zeitgeist und gibt Aufmüpfigen und Träumenden eine Bühne. CLAUDIA HELMERT
»Dritte Wege in der zweigeteilten Welt«
Retrospektive
01.11., 18 Uhr, Passage Kinos Wintergarten
02.11., 18 Uhr, Passage Kinos Wintergarten
03.11., 18 Uhr, Passage Kinos Wintergarten