Allgemein Filmrezensionen

Was für die einen ein Sehnsuchtsort ist…

»Vista Mare« von  Florian Kofler, Julia Gutweniger

Seid ihr erst vor kurzem aus dem Urlaub zurückgekommen und vermisst bereits das Meer, die Sonnenliege und das leckere Essen? Achtung: Dieser Film könnte euren Urlaubsblues noch verstärken, aber eröffnet dafür auch eine wertvolle und für viele sicherlich neue Perspektive auf die schönste Zeit des Jahres. In dieser Dokumentation können wir eine ganze Urlaubssaison lang hinter die Kulissen des beliebtesten Reiseziels Deutschlands blicken: »Bella Italia«. In einem künstlich angelegten Urlaubsort an der Adriaküste verfolgt die Kamera Putzfrauen, Rettungsschwimmerinnen, Strandverkäufer und viele andere bei der Arbeit. Der schöne »Vista Mare« (Meerblick), für den im Jahr um die 60 Millionen Touristen aus aller Welt anreisen, verliert neben den tausend Handgriffen der Saisonarbeiter seinen Zauber. Doch das ist gewollt, denn: Was für die einen Sehnsuchtsort ist, bedeutet für andere nur Lohnarbeiten – und das nicht unbedingt zu fairen Konditionen.

In gebührendem Abstand oder gänzlich aus der Ferne, lassen uns Florian Kofler und Julia Gutweniger die Arbeiterinnen und Arbeiter beobachten. Da sind ein Mann, der elektrisch ausfahrbare Sonnenschirme testet, eine junge Frau, die Strandaerobic anbietet und ein Maskottchen, dass Kinder bespaßt. Dabei bleibt die Kamera meist statisch, einfühlen können wir uns kaum. Im Vordergrund stehen nicht die einzelnen Personen, sondern die verschiedenen Tätigkeiten und Handgriffe, die entwickelt und ausgeführt werden, um den Urlauberinnen das größte Vergnügen zu bereiten. Von dystopischen monotonen Klängen untermalt und mit weit geöffneter Blende gefilmt, wirkt die Szenerie zu Beginn oft trist und farblos. Zu sehen sind Produktionsräume, Materialien, große und kleine Maschinen und Menschen in Akkordarbeit.

Ab dem Zeitpunkt, wo die Touristinnen und Touristen im künstlichen Strandort eintreffen, wird es zwar insgesamt lauter und bunter, doch das Gefühl von Monotonie bleibt: Entertainer, Trainerinnen, Köche und Küchenhilfen sind rund um die Uhr für die Urlauberinnen und Urlauber im Einsatz. Das volle Unterhaltungsprogramm läuft, während die Arbeitenden kaum ein Wort sprechen. Erst gegen Ende unterbricht eine kurze Szene die geregelten Abläufe: Ein Demonstrationszug läuft skandierend an der Strandpromenade entlang und zeigt uns für einen Moment ein anderes Bild der Arbeitenden: Sie stehen hier nur für ihre eigenen Interessen ein. Für Arbeitsrechte und gegen Ausbeutung rufen sie, doch Konsequenzen sind zumindest in der Dokumentation nicht mehr sichtbar. Stattdessen schauen wir im gleichen Takt wie vorher zu, wie Luftrutschen, Liegestühle und Wasserinseln zum Saisonende Stück für Stück zusammengepackt und weggeräumt werden. Bis zum nächsten Mal!

Wer sich eine wendige Handlung mit Spannungsbogen erhofft, ist bei dieser Dokumentation vermutlich enttäuscht. Es gibt keine Protagonistinnen oder Protagonisten und kaum Dialoge. Schnell wird außerdem deutlich, worum es geht und in welchem Rhythmus der Film funktioniert. Doch genau diese Form verdeutlicht das Thema der Dokumentation auf eine eindrückliche Art und Weise: Anhand der Seherfahrung können die Arbeitsbedingungen regelrecht nachempfunden werden. Hinzu kommen sorgfältig konstruierte Standaufnahmen, die an Industriefotografie erinnern und Massenproduktion sowie Massentourismus künstlerisch in Szene setzen. Und wenn man gerade denkt, man hat alles schon gesehen, gibt es eine unerwartete, komische Szene oder eine merkwürdige Prozedur zu beobachten, die einen mit der Frage zurücklässt, für wen dieser Urlaubszirkus unerlässlicher ist: Für die Touristinnen oder die Saisonarbeiterinnen? CHIARA SWENSON

»Vista Mare«: AU IT 2023 | 80 min | R: Florian Kofler, Julia Gutweniger | Publikumswettbewerb | italienisch | englisch, deutsch erweiterte UT | Deutsche Premiere

Passage Kinos Astoria: 11.10., 14:00 Uhr

Schaubühne Lindenfels: 12.10., 17:00 Uhr

CineStar 2: 14.10., 20:30 UHR

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