»El Shatt – A Blueprint for Utopia« von Ivan Ramljak
Während 1944 alle Welt die Fronten des zweiten Weltkriegs verfolgt oder selbst im Kampf ist, handelt der jugoslawische Partisanenführer Tito einen Deal mit britischen Alliierten aus: Die Familien von jugoslawischen Widerstandskämpfern aus der Gegend Dalmatien dürfen Jugoslawien verlassen und eine lange Reise antreten, deren Ziel für viele noch unbekannt ist. Wer kämpfen kann, soll zu Hause bleiben, heißt es. Dennoch schaffen es auch einige Jungs und junge Männer, sich unter die Reisenden zu mischen. Über Kroatien, Süditalien und schließlich bis nach Ägypten, verläuft die Reise der rund 40.000 Flüchtlinge, da die Kämpfe zwischen Alliierten und Deutschland in Italien andauern. Schließlich steht das Ziel für die Dalmatiner*innen fest: Ein ehemals britisches Militärcamp in El Shatt, nahe dem Suez Kanal. Was zunächst wie eine spontane organisierte Flucht wirkt, wurde von Tito im Hintergrund genau durchdacht. Er stellte sicher, dass sich genug Organisatoren unter den Reisenden befanden, um in El Shatt nicht nur ein vorübergehendes Flüchtlingscamp, sondern auch eine sozialistische Gemeinschaft zu errichten, welche als Modell für die spätere Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien dienen sollte.
Zwei Jahre lang lebten die Menschen dort in einer völlig unbekannten Umgebung, mit hohen Temperaturen, Sandstürmen und unbekannten Krankheiten. Viele Dalmatiner*innen kamen mit den neuen Lebensbedingungen nicht zurecht und erkrankten – 715 Grabsteine erinnern noch heute vor Ort an die Verstorbenen. Doch für andere war es ein Ort unendlicher Möglichkeiten: Es wurde eine eigene Zeitung errichtet, neue Kleidung genäht, gemeinsam gekocht, gesungen, getanzt und Fußball Wettkämpfe ausgetragen. Jeder habe etwas zu tun gehabt, heißt es. Für eine Bewohnerin sei es sogar die beste Zeit ihres Lebens gewesen, denn es habe keinen Stress durch Eltern, Schule, Sorgen oder Männer gegeben. »I was no longer free as of then«, sagt sie heute.
Diese unterschiedlichen Perspektiven auf die damalige Reise und das Leben in El Shatt, spiegeln sich in den vielen Fotografien und kurzen Videosequenzen wider, die Regisseur Ivan Ramljak zusammengetragen hat. Zusammen mit den lustigen, traurigen, aber vor allem mitreißenden Erzählungen von Zeitzeug*innen aus dem Off wird die Geschichte von damals zum Leben erweckt. Dabei verläuft die Erzählung fortlaufend, Erzählungen und Bildmaterial passen oft hervorragend zusammen, und es werden einzelne Bereiche angesprochen und dargestellt: Die Reise nach Ägypten, das Leben im Zelt, die verschiedenen Gemeinschaftsaktivitäten, Krankheiten, Hochzeiten etc. Mithilfe von Ab- und Aufblenden werden die Themen stilistisch voneinander getrennt. Der Bildschirm bleibt ein paar Sekunden schwarz und lässt Zeit, das Gesehene und Gehörte zu verarbeiten. Abgesehen davon tauchen auch einige neue Filmaufnahmen in der Dokumentation auf und verleihen ihr Struktur und Kontext: Zu Beginn und zum Ende sehen wir vermutlich den heutigen Friedhof in El Shatt und Gedenktafeln in Dalmatien. Außerdem wird das Archivmaterial immer wieder durch kurze Theatereinlagen von Schauspieler*innen unterbrochen, die als jugoslawischen Partisan*innen verkleidet vom aktuellen Kriegs- und Camp Geschehen berichten. Durch ihre Gestik und Mimik werden die Berichterstattungen besonders lebendig und sie vermitteln ein Gefühl für die damalige Situation.
Der Film ist ein Meisterwerk, welches Elemente von Theater, Oral History und visuelles Archivmaterial miteinander verbindet und so mitreißend erzählt, dass man den Verlauf des Films gebannt verfolgt. Allerdings ist die Dokumentation auch, und vielleicht gerade deswegen, an einigen Stellen recht rasant unterwegs und rafft die Zeit der Jahre 1944, 1945 und 1946 stark zusammen. Wegen des schnellen Erzähltempos und der englischen Untertitel, wäre es zum besseren Verständnis des Films sicher hilfreich, ein wenig Vorwissen zur Entstehungsgeschichte Jugoslawiens und der Balkanregion mitzubringen. CHIARA SWENSON
»El Shatt – A Blueprint for Utopia«: HRV SERB 2023 | 96 min | R: Ivan Ramljak | Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm | kroatisch, arabisch | englisch UT | Internationale Premiere
CineStar 2: 12.10., 14:30 Uhr
Cinémathèque: 15.10., 21:00 UHR