»Hotel Astoria« (Alina Cyranek/Falk Schuster, D 2020)
Ein Abend, irgendwann in den Achtzigern: Die Nachtbar im Astoria ist gut besucht. Nahezu jede der Sitzecken ist besetzt, auf der Tanzfläche bewegen sich die Besucher zu Diskopop, die Band hat grad Pause. Bar-Mixer Reinhard Zeh serviert eine Grüne Wiese. Dazu eine Cabinet Zigarette. Der lange Abend in der Nachtbar kann beginnen.
Die Nächte in der legendären Bar im Interhotel Astoria sind lange vorbei. Für einen Moment leben sie wieder auf, mit Hilfe einer Virtual Reality Brille und der Kreation von Alina Cyranek und Falk Schuster. Die riesige Ruine inmitten der Leipziger Innenstadt übt bei jedem, der an ihr vorbeiradelt, eine gewisse Faszination aus. Alina Cyranek liebt diese verlassenen Orte, sieht Geschichte und Geschichten zwischen eingefallenen Decken, abgeblättertem Putz und zerborstenem Glas. Vor sechs Jahren rekonstruierte die Leipziger Filmemacherin den Moment des letzten Kriegstoten des 2. Weltkrieges. Der US-Soldat Raymond J. Bowman starb 1945 durch die Hand eines deutschen Scharfschützen. Der Kriegs-Fotograf Robert Capa hielt die Szene fest. Cyranek hauchte ihr Leben ein an historischer Stätte, dem heutigen Capa-Haus auf der Jahnallee.
Das Hotel Astoria faszinierte Cyranek schon lange. »Seit 1996 ist es geschlossen und gammelte seitdem vor sich hin.« Dabei lag innerhalb der Mauern einst eine andere Welt. »Die Bar war der schillerndste Ort dieses Hotels«, erklärt Cyranek. »Dinge, die dort passierten, blieben dort. Dort war möglich, was sonst nirgends möglich war. Prostitution war beispielsweise in der DDR verboten. Dort ging das ganz offiziell. Zu Messezeiten wurden junge Frauen angestellt für die Besucher. Dort wurden Geschäfte gemacht, dort wurde gesoffen, getanzt. Es war so eine Blase, die überhaupt nicht die DDR war und wo viele krasse, lustige, erschütternde Geschichten stattgefunden haben.«
Diese Atmosphäre wollen die Filmemacher wieder aufleben lassen. »Wir wollen ein Fenster in die Vorwendezeit der Achtziger öffnen. Man verbringt einen Abend in dieser Bar, die es nicht mehr gibt, in einer Zeit, die es nicht mehr gibt. Wir wollten etwas möglich machen, was schon lange nicht mehr möglich ist.« Obwohl sie sich sonst mit Film befassen, war die Idee, etwas Interaktives zu schaffen, von Anfang an da. »Und was bietet sich mehr an, für eine Rekonstruktion eines Raumes und einer Zeit, die es nicht mehr gibt, als VR«, sagt Cyranek. Also entwickelten sie das Konzept eines Abends in der Nachtbar mit interaktiven Elementen, die die Geschichten jener Zeit erzählen. Gesammelt hat sie Cyranek in langen Gesprächen mit Zeitzeugen und etlichen Wochen im Stasi-Archiv. Das Leipziger VFX-Studio BlendFX wurde mit der Umsetzung betreut.
Parallel dazu entsteht ein 25-minütiger Dokumentarfilm, der die Geschichte des Hotels beleuchtet. Hier kam der Hallenser Animationsfilmemacher Falk Schuster ins Spiel. »Ich habe Falk mit ins Boot geholt, weil ich wusste, das wird kein normaler Dokumentarfilm. Zunächst einmal, weil es die Räume nicht mehr gibt. Es war aber nicht mein Ansinnen, die Leute vor die Kamera zu setzen und erzählen zu lassen. Ich wollte diese Zeit wieder aufleben lassen, auf eine künstlerische Art und Weise und ich wusste, das wird als Animadok passieren.« Gemeinsam mit den Zeichnungen von Tim Romanowsky und Alexander Schmidt und dem wenigen Bewegtbildmaterial, das existiert, entsteht ein atmosphärischer Blick in die Vergangenheit. Eine Zeit, in der an diesem Ort inmitten der DDR Hummer, Lachs und Kaviar serviert wurden, und Martinis und Campari flossen. Irgendwelche besoffenen holländischen Professoren riefen: »Alle Frauen in Samthosen sind Stasi-Nutten!« Die Staatssicherheit war immer da, dessen war man sich bewusst. »Wenn die da den ganzen Abend in der Nachtbar saßen, mit ihren gelben Krawatten und Gin Tonic getrunken haben«, erinnert sich ein Zeitzeuge, »wussten wir ganz genau, warum die da waren. Aber die haben uns ja nichts getan, die haben ja auch nur ihren Job gemacht.« Andere bekamen die Auswirkungen deutlicher zu spüren.
Die widersprüchlichen Erzählungen, die subjektive Wahrnehmung jener Zeit, dieses Spannungsfeld interessiert die Filmemacher. »Jeder hat seine eigene Wahrheit und in so einem Film darf das auch jeder haben. Jeder hat es anders erlebt und war in der Hierarchie an einer anderen Stelle und hat daher die Staatsmacht mal mehr mal weniger zu spüren bekommen. Danach sind die Erinnerungen gefärbt. Das ist für uns das Spannende.«
Im Sommer soll das Projekt vollendet sein und wird hoffentlich seine Premiere beim Dok Leipzig feiern. »Das wäre ein tolles Heimspiel«, gibt Cyranek zu. »Die Krönung wäre eine Festinstallation der VR im neuen Astoria.«
LARS TUNÇAY
Kompilation Animation 2 & Der goldene Schnitt
28.10., 11 Uhr, Passage Kinos Wintergarten
28.10., 18 Uhr, Schaubühne Lindenfels
30.10., 20 Uhr, Passage Kinos Astoria
31.10., 15 Uhr, Passage Kinos Astoria
1.11., 20 Uhr, Schauburg