Allgemein DOK Leipzig 2020 Filmrezensionen

Wohnwagenträume

»Erwin« (Jan Soldat, A/D 2020)

Sexualität nimmt eine zentrale Rolle im filmischen Schaffen von Jan Soldat ein. Der gebürtige Chemnitzer studierte in Potsdam Film- und Fernsehregie. Seine Kurzfilme liefen auf dem Pornofilmfestival in Berlin. Auch auf der Berlinale war der Regisseur mehrfach vertreten. Etwa mit seinem Film »Zucht und Ordnung« in dem er zwei Senioren porträtierte, die gemeinsam ihre BDSM-Fantasien ausleben.

Erwin sitzt in seinem Wohnwagen. Vor ihm steht sein PC. Außerdem ein Aschenbecher und eine Tasse mit Kaffee. Die meiste Zeit des Films bleibt es bei dieser Einstellung. Der Zuschauer sieht Erwin im künstlichen Licht aus nächster Nähe, während er zugleich die Fragen hört, die Soldat mit deutlich sächsischem Singsang stellt. So entstehen intime Momente, die der Protagonist offensichtlich genießt. Immer wieder unterbricht er seine Erinnerungen an die Familie oder ehemalige Liebhaber, um von seinen sexuellen Fantasien zu erzählen. Zweimal entblößt er sich dabei vor der Kamera.

Es ist eine kleine Welt für sich, die Soldat mit seinem Film auftut. Ein arbeitsloser Mann im angehenden Rentenalter, der in seinem Wohnwagen lebt und über Webcams mit anderen Männern in Kontakt tritt. Erwin war sich seiner Homosexualität schon früh bewusst. Einen Großteil seines Lebens litt er unter der damit verbundenen gesellschaftlichen Stigmatisierung. Eine seiner großen Lieben starb 1994 an Aids. Eine andere kehrte nach einiger Zeit zu seiner Familie zurück. Hin- und Hergerissen zwischen Melancholie und Freude über die Anwesenheit der Kamera erinnert sich Erwin und reißt so Fenster auf, die weit in die Vergangenheit reichen. Jan Soldat ist es anzurechnen, dass er nicht wertet, sondern sich ganz auf die Beobachtung und seine Fragen verlässt. Das Ergebnis ist das einfühlsame Porträt eines einsamen Mannes.

JOSEF BRAUN

29.10., 22.00, Cinémathèque Leipzig

abrufbar auf CultureBase.org

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