»Erwin« (Soldat, 2020)
Erwin ist 58 Jahre alt und eine geile Sau. Er sitzt in seinem Wohnwagen und spielt sich an den Nippeln rum, während Jan Soldat ihm persönliche Fragen zu seiner Biographie stellt. Eigentlich ein unangenehmes Setting. Aber Jan Soldat ist ein Profi. Er kennt sich mit intimen Situationen aus. In Filmen wie »Der Unfertige» (2013) oder seiner Tetralogie über Gefängnisrollenspielen (»Hotel Straussberg«, »Der Besuch«, »Die Sechste Jahreszeit«, »Haftanlage 4614«, 2014) setzt sich Soldat mit ganz besonderen Facetten queerer Sexualität auseinander. Es sind keine gebügelten Netflix-Filme, die queere Lebensstile in Pastellfarbenromantik und heteronormativer Körperwahrnehmung kommerzialisieren. Jan Soldat zeigt in seinen Filmen durchaus den Abscheu, das Tabu, das wir empfinden, wenn wir Gewaltfetische oder einfach nur offen vorgetragene Sexualität sehen. Jedes Unbehagen, dass sich beim Zuschauer einstellt, wird jedoch aufgelöst. Die Stärke seiner Dokumentarfilme ist es zu den Menschen vorzudringen, die hinter den gesellschaftlichen Tabus existieren. So auch in seinem Kurzfilm »Erwin«. In nur 16 Minuten schafft es Jan Soldat von der Abneigung, die wir empfinden mögen, wenn ein alter beleibter Mann von sich als geiler Sau spricht, zu einer liebevollen Erzählung von einem Mann zu geraten, dessen Liebe oft enttäuscht wurde. Was diesen Kurzfilm so besonders macht, ist die ehrliche Anteilnahme, die Jan Soldat mit Erwin verbindet. Sein Leben verortet sich am Rande der Gesellschaft und er wirkt einsam, zurückgelassen. Doch in seiner Sexualität findet er Selbstvertrauen. Selbst die größten Tabus verlieren ihre Schockwirkung, wenn sie ehrlich vorgetragen werden. Jan Soldat hat mit „Erwin“ ein einfühlsames Proträt geschaffen, das nicht ohne liebevolles Befremden auskommt.
EYCK-MARCUS WENDT
Teil der Kompilation »Against Interpretation«
29.10.2020, 22 Uhr, Cinémathèque Leipzig
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