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Der Lieblingsmüll der Nation

»Atomkraft Forever« (Carsten Rau, D 2020)

»Atomkraft Forever« erzählt vom Ausstieg Deutschlands aus der Atomkraft. Ein Film über die »saubere« Kernenergie und 4 Millionen Tonnen radioaktiven Materials.

2022 wird der letzte Atomreaktor vom Netz genommen. Ein Fest der Energiewende? Wohl kaum. Nach der nuklearen Katastrophe in Fukushima erklärte Angela Merkel 2011 den Ausstieg aus der Kernenergie. Seitdem ist vieles jedoch ungeklärt geblieben: Wohin mit dem hochgefährlichen Müll, der noch viele Tausend Jahre strahlen wird? Eine Lagerung für die Unendlichkeit muss geplant sein. Bisher hat noch kein Land auf der Welt ein Atommüllendlager.

Der Dokumentarfilm von Carsten Rau wirft einen unaufgeregten Blick auf die Mission Atommüll. Stilmittel des Films ist die gut inszenierte Öde der Realität: In Büroräumen und gut ausgeleuchteten Industriehallen kommt man dem Alltag der Menschen näher, die an dem Ausstieg beteiligt sind. Sachlich werden Angestellte gezeigt, die darauf hinarbeiten, ihren eigenen Job abzuschaffen. Statt die geballte öffentliche Empörung über Atomkraft oder den parteipolitischen Zündstoff ins Rampenlicht zu stellen, werden lieber die Gänge des ehemaligen Kraftwerks Greifswald gezeigt — aus dem Off eine Stimme, die erklärt, dass bei den Sanierungsarbeiten radioaktiver Staub freigesetzt wird.

Dazwischen Anwohnerinnen, die das Kraftwerk zur Kirche des Dorfs erklären. Im Vordergrund werden Rosenhecken gestutzt, im Hintergrund stößt das Atomkraftwerk seine Wolken aus. Die emissionsfreie Kernenergie hält sich dabei beharrlich als sensationelle Technik zur Stromgewinnung. »Aus so wenig so viel machen«, schwärmt eine Pressesprecherin und verführt damit zum Zweifeln: War der Atomausstieg richtig?

Gleichzeitig demonstriert der Film die Absurdität, Kernkraftwerke zu betreiben, ohne zu wissen, wohin der Müll anschließend soll. Diese Frage wird die Menschheit noch einige Jahrhunderte beschäftigen. Giftiger Müll vor der eigenen Haustür? Die Bürgerinnenpartizipation klingt in Carsten Raus Film eher wie ein bürokratisches Schlagwort. Die Kämpfe um den Standort werden, so scheint es, eher auf gesitteten Konferenzen ausgetragen, als auf der Straße. Hat der Regisseur damit einiges an dramaturgischem Sprengstoff gegen die Inhalte von nüchterner Büroarbeit ausgetauscht? Bestimmt, allerdings gewollt und mit überzeugender poetischer Bildsprache, die so sehenswert ist wie die Wirklichkeit selbst.

LEONIE ZIEM

27.10.2020, 20:30, CineStar 2

29.10.2020, 20:00, Hauptbahnhof Osthalle

01.11.2020, 18:15, Schaubühne Lindenfels

ab 28.10.2020 abrufbar auf CultureBase.org

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