Lutz Dammbecks Filmessay »Overgames«
Deutschland als Versuchslabor? Die Umerziehung eines ganzen Volkes? Gefügigkeit durch Gameshows? Das Fass, welches Lutz Dammbeck in seinem Mammutwerk »Overgames« öffnet, gereicht wahrhaft zu einem Fest für Verschwörungstheoretiker. Aber der Filmemacher sucht Antworten, nicht Thesen. Akribisch sammelte er über Jahre hinweg Fakten und die Kamera begleitete ihn dabei. Herausgekommen ist eine 164-minütige Reise durch die Weltgeschichte und die Psychologie. Vom Geist der Aufklärung über das dunkle Kapitel des Nationalsozialismus‘ bis hin zu den Gameshows der Gegenwart. Ein Kraftakt auch für den Zuschauer, aber ebenso ein einzigartiger Trip durch die Psyche des Menschen.
Ausgangspunkt für den Leipziger Regisseur war eine Aussage von Joachim »Blacky« Fuchsberger in einer Talkshow im Jahre 2005. Der Moderator, der einst in den Sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts amerikanische Spielshows im deutschen Fernsehen salonfähig machte, bezeichnete darin die Menschen im Nachkriegsdeutschland als Geistesgestörte. Er behauptete, die Spiele der Show »Nur nicht nervös werden«, die er Anfang der Sechziger präsentierte, seien in der amerikanischen Psychiatrie entwickelt worden. Ziel sei die Heilung einer psychisch gestörten Nation gewesen. Diese Worte lassen Dammbeck nicht mehr los. Wieso waren die Deutschen, genauer: die Westdeutschen, damals eine psychisch gestörte Nation? Und wie sah die vorgesehen Heilung aus? Lutz Dammbeck reist in die USA, wühlt sich durch Archive und spricht mit ehemaligen Produzenten und Entwicklern erfolgreicher Gameshow-Konzepte wie »Der Preis ist heiß« oder »Jeopardy«. Er studiert die Werke von Anthropologen und Psychologen wie Margarete Mead, die in den dreißiger Jahren Studien sogenannter primitiver Völker auf Bali unternahm, und Richard M. Brickner, der den Nationalsozialismus analysierte. Brickner erkannte, dass es sich bei den Deutschen um ein paranoides Volk handelt und stellte in seinem 1943 erschienenen Buch die Frage: »Ist Deutschland unheilbar?« Mit den Erkenntnissen Meads und an der Seite zahlreicher US-Psychoanalytiker entwickelte er einen Plan zur Umerziehung der Deutschen nach dem Krieg.
Parallel verfolgt Dammbeck die Entwicklung einer amerikanischen Norm, die auf das Konzept der permanenten liberalen Revolution zurückgeht, nachzulesen in der Erklärung der Menschenrechte oder in der US-Unabhängigkeitserklärung. In der Gegenwart mündet all dies schließlich in der Konditionierung der Menschen durch Gameshows. Ein wilder Ritt durch die Geschichte, geprägt von der subjektiven Perspektive des Filmemachers. Wir gewinnen die Erkenntnisse gemeinsam mit Dammbeck anhand von umfangreichem Archivmaterial. Seine ruhige, sachliche Stimme begleitet uns durch den filmischen Gedankengang, interpretiert, deutet und fasst zusammen. Ein wenig obsessiv ist auch sein Verhalten. Die Recherchearbeit, die in »Overgames« steckt, ist irrsinnig und zeigte sich bereits in Dammbecks früheren künstlerischen Arbeit. Der Film ist Teil der in Leipzig begonnenen Arbeit am »Herakles Konzept«, einem Gesamtkunstwerk aus Filmen, Collagen, Installationen und Texten. Teil dieses Konzepts ist auch sein Dokumentarfilm »Das Netz« von 2003, sowie die Installationen »Over Games«, 1999 in der Nationalgalerie Berlin.
Bei all den Informationen, die Lutz Dammbeck präsentiert, immer wieder filmisch geschickt aufgelockert durch Ausschnitte aus verschiedenen Spielshows, und der Aufmerksamkeit, die er dem Zuschauer abverlangt, ist es faszinierend, wie er die Spannung über zweieinhalb Stunden hält. Das filmische Essay, vom DOK Leipzig, wo »Overgames« 2015 seine Premiere feierte, als enzyklopädischer Film bezeichnet, entwickelt einen ganz eigenen Sog und auch wenn die Wahrheit irgendwo dazwischen liegen mag, ändert das nichts an der Faszination der Theorien Dammbecks.
LARS TUNÇAY
»Overgames«
Werkschau Lutz Dammbeck | Germany | 2015 | Documentary Film | 164 min. | English, German | German subtitles
Country: Germany
Year: 2015
Language: English, German
Subtitle: German
Runtime: 164 min.
Format: DCP
Color: Colour and B&W
Director: Lutz Dammbeck
Producer: Lutz Dammbeck
Cinematographer: Börres Weiffenbach, Eberhard Geick, Volker Tittel, István Imreh
Editor: Margot Neubert-Marić
Music: J. U. Lensing
Sound: Vinzent Muhsik, Björn Geldermann
Script: Lutz Dammbeck