»Chris the Swiss«, eine spannend erzählte, visuell beeindruckende Spurensuche, die mit Leipziger Hilfe entstand
Die Leinwand erwacht in grau-schwarzen Strichen. Ein kleines Mädchen kämpft sich durch das Dickicht eines Maisfelds. Am Ende erkennt sie eine großgewachsene Gestalt, die sorglos rauchend neben dem Feld steht. Doch dann erscheinen bedrohliche Gestalten, flüchtige Schemen zusammengesetzt aus Schwärmen hunderter, rabenähnlicher Fragmente, die den jungen Mann über die weite Ebene jagen. »Als ich klein war, erzählte mir meine Mutter von einem seltsamen Land mit Ebenen so weit wie das Meer – und dass dort manchmal Menschen verloren gehen.«
Anja Kofmel ist zehn Jahre alt, als sie vom Tod ihres Cousins erfuhr. Hinter vorgehaltener Hand tuschelten die Eltern im Nebenraum. Etwas Schreckliches war passiert, das die Familie nachhaltig verändern würde. Christian Würtenberg war 27 Jahre jung, als er starb. Es ist 1992. Der Kosovokrieg tobt. Inmitten des Chaos‘ wird seine Leiche wenige Kilometer von der serbischen Grenze entfernt gefunden. Knochenbrüche an der Halswirbelsäule verraten: Er ist erwürgt worden. Wie er starb, wird nie aufgeklärt. Zwanzig Jahre später macht sich Anja Kofmel auf die Suche. Sie will herausfinden, was wirklich geschehen ist. Albträume verfolgen sie seit jener Nacht, in denen Chris immer wieder von der Dunkelheit verschlungen wird.
Sie folgt seiner Spur, die sie aus Notizen, Tagebüchern und Zeitungsartikeln zusammensetzt. Chris war als Kriegsreporter zunächst in Südafrika, später im Kosovo. Er wollte die Hintergründe des Konflikts herausfinden, liebte den Nervenkitzel. Einige Wochen vor seinem Tod verliert sich die Spur. Wegbegleiter berichten, er wäre selbst aktiv geworden, habe sich einer internationalen Gruppe von Söldnern angeschlossen, um auf der Seite der Kroaten zu kämpfen. Hatte er sich bei der Söldnerbrigade als Maulwurf eingeschlichen, um Gerüchte von Korruption und Waffenhandel zu untersuchen? Wollte er den Verflechtungen der Gruppe mit der katholischen Organisation Opus Dei nachgehen? Vieles bleibt im Dunkel der Geschichte verborgen.
Anja Kofmel, 1982 in Lugano geboren, studierte an der Hochschule Luzern Animationsfilm. Bereits 2009 in ihrem Abschlussfilm »Chrigi« setzte sie sich mit der Geschichte ihres toten Cousins auseinander. In ihrem ersten Langfilm vermischt sie meisterhaft Animationssequenzen mit Archivmaterial und den Gesprächen, die sie führte.
»Der Realfilm vermag die Emotionen von Familie und Zeitzeugen unverfälscht widerzugeben, die Animation erlaubt mir, fehlende Fragmente in Chris‘ Geschichte durch meine eigenen Vorstellungen und Fantasien zu ergänzen und meine Autorenhaltung als Icherzählerin und Cousine zu präzisieren«, erklärt Kofmel. »Meine persönlichen Gedanken und Erfahrungen fließen in die Animation ein. Durch diesen subjektiven Blickwinkel erhält der Film eine neue Legitimität.«
In ihren Träumen ebenso, wie in den Gesprächen mit Zeitzeugen prallen Fiktion und Realität aufeinander. Sie setzt die Geschichten mit Animationen um. Die grau-schwarz-weißen Graphitzeichnungen sind lebendig, flüchtig wie die Erinnerungen bewegen sie sich über das Papier. »Diese Reibung zwischen Realität und Fiktion macht für mich den Reiz einer filmischen Umsetzung aus«, sagt Kofmel.
»Chris the Swiss« ist eine Koproduktion der Schweizer Produktionsfirma Dschoint Ventschr, Nukleus Film in Kroatien, sowie der in Leipzig ansässigen Ma.ja.de Filmproduktion. Heino Deckert, Geschäftsführer von Ma.ja.de erzählt: „Unsere Freunde von Dschoint Ventr haben uns das Projekt vorgeschlagen und man konnte sofort sehen, dass es ein Film ist, der ein unglaubliches Potential hat. Die ersten Proben für die Animation sahen großartig aus und erinnerten vom Stil her stark an „Waltz with Bashir“.« Wie bei Ari Folmans oscarnominiertem Meisterwerk füllt auch Kofmel die Leerstellen dessen, was nicht gezeigt werden kann, mit Animation.
»Wir waren sofort begeistert von dem Projekt und seiner visuellen Form. Auf der anderen Seite war es auch nicht unbedingt einfach ihn zu finanzieren, denn das Budget war durch die Animationen extrem hoch.« Die staatliche Förderung war aus Zagreb zunächst versprochen, blieb dann aber aus. Als Gründe nannte man Änderungen am Skript, die der nationalkonservativen HDZ, die seit 2016 an der Macht ist, wohl ein Dorn im Auge waren.
Nach einer langen Produktionsphase konnte der Film schließlich fertiggestellt werden, auch mit Hilfe aus Dresden: Für Compositing und Farbkorrektur zeichnete Balance Film verantwortlich. Bei der Semaine de la Critique im Mai erblickte er das Licht der Leinwand. »Wir haben uns natürlich tierisch gefreut, dass der Film in Cannes gelaufen ist und dort sehr gut angekommen ist. Jetzt wollen wir sehen, dass wir den Film in Deutschland ins Kino bekommen. Auch ans Fernsehen ist der Film in Deutschland noch nicht verkauft worden. Da haben wir noch viel zu tun.«
LARS TUNÇAY
»Chris the Swiss«
Internationales Programm | Schweiz, Deutschland, Kroatien, Finnland | 2018 | Dokumentarfilm | 90 Minuten | deutsch, englisch, französisch, schweizerdeutsch, spanisch | deutsch, englisch Untertitel | Deutsche Premiere
Passage Kinos Astoria / 30.10.2018 / 16:30
Polnisches Institut / 31.10.2018 / 20:30
Hauptbahnhof Osthalle / 03.11.2018 / 19:30
https://filmfinder.dok-leipzig.de/de/film/?ID=20946&title=Chris+the+Swiss