Ein- und Ausblicke über die Retrospektive des Dokfilmfestes
Erhellend und erschütternd: Selbst der Regisseur Emile de Antonio will keine eigenen Worte über den Vietnamkrieg finden, der ein historisches Ereignis von Welt ist, dessen Nachwirkungen bis heute andauern. Er lässt Zeitzeug*innen, unter anderen Journalist*innen, Politiker*innen sowie Militärangehörige erzählen. Deren Aussagen wie etwa »americans communicate with money and guns« überlagern sich mit internationalen Newsmeldungen und erschreckendem Archivmaterial. So legt der Oscar-Gewinnerfilm »In the Year of the Pig« (1968) offen, wie sich Amerika in die Eskalation zum Krieg verstrickt. Eine kritische Position zu beziehen, war dabei ein wesentliches Anliegen des Regisseurs, wie er 1971 in einem Interview betont:
»And as I’ve made each film, it’s become almost balletic motion, in that I could feel the resistance of establishment against what I was doing. So everytime they raised the ante, I raised the ante. (…) I mean the war showed us America for what it really is.«
Ein bemerkenswerter Auftakt ist die auf 16mm gezeigte Dokumentation, die im gut besuchten Luru Kino auf dem Baumwollspinnereigelände knistert. Und sie macht große Lust auf die Werkschau des US-amerikanischen Regisseurs, die während der diesjährigen Retrospektive des Internationalen Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm läuft. Unter dem Titel »Un-American Activities« erschrecken 26 Filmen damit, wie etwa Krieg, Rassismus und Ausbeutung bis in die Gegenwart spuken. Besonders ist, dass die Auswahl aus 150 Werken erfolgte, die bereits von 1962 bis 1989 über die Leinwände der Leipziger Kinos flimmerten – eine erstaunliche Menge, wie die beiden Kuratoren Tobias Hering und Tilman Schumacher beteuern. »Darüber hinaus ließen sich manche Beiträge durchaus als kritische Interventionen gegen die tendenziell selbstgefällige Weltsicht verstehen, die damals in Leipzig vorgegeben wurde«, geben sie als einleitende Worte für die Retrospektive an die Hand. Ihre Auswahl gibt Einblicke in das »andere Amerika«, ein kritisches, eines mit Minderheiten und Widerständigen.
In den folgenden Tagen stellt uns so der Film »Where Did You Get That Women?« (Smith, 1982) die siebzigjährige Joan Williams vor, die aus ihrem unfassbaren Leben als Putzkraft in einem Chicagoer Nachtlokal der 1970er Jahre erzählt. Ihr Portrait ergreift am 30. Oktober, 18 Uhr im Cinestar (Saal 5). Weiterhin spannt »Sons and Daughters« (Stoll, 1967) einen thematischen Bogen zum Beginn der Retrospektive. Als Zuschauer*innen begleiten wir junge US-Amerikaner*innen dabei, wie ihr Engagement wächst, wie sie sich politisieren, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. Der Film strahlt am 31. Oktober, 10 Uhr, im Luru Kino in der Spinnerei mit anschließender Paneldiskussion. Ein mitreißender Film, der aus der Kraft kollektiver Aktionen und Widerstände schöpft – möge er als Appell an die Gegenwart verstanden werden, sodass die diesjährige Retrospektive weit über die Festival hinausweist.
CLAUDIA HELMERT
Retrospektive 2025: »Un-American Activities«, 24.10.-8.11., Luru-Kino in der Spinnerei und Cinestar (Saal 5)
www.dok-leipzig.de/retrospektive-un-american-activities#die-kuratoren
