»An Asian Ghost Story« von Bo Wang
Die aufleuchtende Unendlichkeit der Großstadt wirkt bedrohlich. Man starrt auf erdrückende Architektur, dicht bebaute Quartiere, gleichförmige hellblaue bis graue Häuserfassaden und wuselnde Menschenmassen. Die Stadt dröhnt. Seltsame Zeiten, seltsame Menschen, seltsame Dinge. Die Worte der Erzählerin nehmen an die Hand und führen in die ungeahnten Tiefen der Geschichte von »An Asian Ghost Story«. Neben Exorzismus-Ritualen buddhistischer Mönche, rückwärts abgespielten Songs und Entwickler für Empfangsgeräte toter Stimmen verflechtet eine Perückenmacherin ihre gespenstische Eingebung mit der Kulturgeschichte Hongkongs. Die Stadt ist ehemalige britische Kolonie und gilt seit 1997 als Sonderverwaltungszone der Volksrepublik China.
Mit innerer Autonomie wird die Stadt – nicht zuletzt im Genre der Hongkong-Filme – als Ort der Meinungsfreiheit verhandelt. So oszilliert Hongkong zwischen zwei Kapitalismus-Idealen und Kommunismus-Bestrebungen. Von diesem Spannungsfeld zwischen West und Ost, Großbritannien und China zeugen beispielsweise die Demonstrationen und Streiks von 1967, die durch gewaltvolle Ausschreitungen in die Geschichte der Stadt eingingen. Von jenen Unruhen in Hongkong raunen, zischen, säuseln scheinbar untote Haare, die von Krieg, Reisen, Gewalt und Träumen ihrer verlebten Besitzer:innen zu berichten vermögen. Und die Stimmen der Vergangenheit verhallen zu Hauf, denn Hongkong wird seit dem sogenannten »kommunistischen Haarverbot« (1965) geradezu heimgesucht von Frauen, die mit Perücken statt Gesichtern auftauchen. Dass der Perückenhandel damals wesentlich zum Erstarken der asiatischen Wirtschaft beitrug, vermag dabei subtil auf den Geist des Kapitalismus deuten.
Mehr noch, auch Haare haben etwas Zwischen-Weltliches, gleichsam etwas Gespenstisches. Dazu erklärt eine Person im Arztkittel: »Hair is a very strange substance (…) it belongs to a different temporality. So, hair is potentially immortal (…) hair outgrows parts of a mortal human body, actually of all human body, because it exists in a much longer time scope (…) So the human body is impermanent, but their hair can live on as if it never decays. So, hair is by nature a substance, that disturbs the separation between life and death. That is something we often attribute to ghosts. That in-between-ness, that in-between-ness is what is unique about Hongkong.«
»Das Gespenstische stattet das Vertraute mit etwas aus, das normalerweise jenseits von ihm liegt«, bringt es der Kulturwissenschaftler Mark Fisher (»Das Seltsame und das Gespenstische«) auf den Punkt. Und das Vertraute unterwandert der faszinierende, 37-minütigen Dokumentarfilm von Bo Wang und Team herrlich: In zunehmend absurden und vereinnahmenden Bildern verzwirbelt der Film den soziopolitischen, kulturellen Schwebezustand Hongkongs mit den persönlichen Berichten einer Perückenmacherin. So kann man sich Hongkong sehr wohl als Gespensterstadt vorstellen.
CLAUDIA HELMERT
»An Asian Ghost Story«: NL, Hongkong 2023 | 37 min | R: Bo Wang | Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm | Englisch, Kantonesisch | Englische UT | Deutsche Premiere
Passage Kinos Wintergarten: 11.10., 12 Uhr (Teil der Kompilation »Geistergeschichten«)
CineStar 2: 11.10., 14.30 Uhr (Teil der Kompilation »Internationaler Wettbewerb Dokumentarfilm 2«
Polnisches Institut: 12.10., 20 Uhr (Teil der Kompilation »Geistergeschichten«), Eintritt Frei
Cinémathèque: 13.10., 18 Uhr (Teil der Kompilation »Geistergeschichten«)