»Einhundertvier« von Jonathan Schörnig
12:59 Uhr zeigt die Anzeige im oberen noch schwarzen Teil des Bildschirms. Im ersten der dann bis zu sechs aufpoppenden Split-Screens erscheint nur eine fahrende Bootsspitze. Erst nach und nach wird der Zuschauer reingerissen in ein packendes Drama: Das Schlauchboot gehört zur Seenotrettungsmission Lifeline und hat am Horizont gerade ein Boot mit Flüchtenden entdeckt.
Obwohl die Abläufe während der folgenden 80 Minuten fast gleich sind – die Menschen werden in Schüben ins Mutterschiff Eleonore gebracht – bleibt die Spannung hoc»Einhundertvier« von Jonathan Schörnigh. Dafür sorgen die besagten verschiedenen Bildausschnitte, von der Brücke des Mutterschiffs oder den GoPros der Helfer; allen voran Clara, deren permanent wiederhallendes »Sit down« wie ein roter Faden durch die gefährliche Hochseerettung führt.
Kurze Befehle peitschen durch den Funk, die Wassertropfen auf der Kameralinse sind fast spürbar. Die 104 Männer sind seit Tagen auf dem Wasser, das marode Gummiboot verliert Luft, schließlich taucht auch noch die lybische Küstenwache auf. Angst und Sorge spiegeln sich in den Stimmen und Gesichtern, die Uhr tickt in Echtzeit mit.
Regisseur Jonathan Schörnig lässt die Zuschauer kaum zur Ruhe kommen – so wie es im Übrigen auch der ehrenamtlichen Crew und den Geretteten erging, wie das Team im Filmgespräch nach der Weltpremiere am 12.10 erklärt. Sie seien schon vor dem Start dieser Rettungsaktion »am Ende gewesen«, denn vier weitere Boote wurden gesucht, das Boot mit den titelgebenden 104 Menschen war quasi ein Zufallstreffer. Doch auch nachdem alle an Bord sind, ist kein Happy End in Sicht.
Ein politisch brisantes Thema, fesselnd und hautnah umgesetzt, das den Kampf ums bloße Überleben – und um Menschenwürde – schmerzhaft vor Augen führt. MARKUS GÄRTNER
R: Jonathan Schörnig
93 Minuten
Sprachen: Deutsch, Englisch / Untertitel: Englisch
13.10.2023, 17:30 Regina Palast 4 (ausverkauft)
15.10.2023, 15:00 Passage Kinos Wintergarten