
»To the Sea« (Annik Leroy, B 1999)
Die Hommage-Sektion der Dok hat sich für dieses Jahr Annik Leroy ausgewählt. Deren Film »To the Sea« ist Porträt Europas nach Ende des Kalten Krieges und Erkundung der Donau.
»Vielgestaltige Auseinandersetzungen mit den Narben vergangener europäischer Geschichte«, attestiert die Dok der belgischen Filmemacherin Annik Leroy. Unter dem Motto »Zeiten anhalten, Orte bewegen« widmet das Festival ihr in diesem Jahr eine Hommage. Zu der gehört auch eines von Leroys bekanntesten Filmprojekten: »To the Sea«. Anfang der neunziger Jahre reiste die Regisseurin dafür von der Quelle der Donau bis zum Schwarzen Meer. 2857 Kilometer führten sie von Donaueschingen im Süden Deutschlands unter anderem über Österreich, die Slowakei und Ungarn bis nach Bulgarien und Rumänien.
Passend zu seinem Titel sind die Szenen in »To the Sea« ständig in Bewegung. Immer wieder wird der Fluss gezeigt. Das Wasser fließt, staut sich, steht still, gurgelt, reißt Äste mit sich oder erstarrt im Winter zu Eis. Daneben bewegt sich die Kamera, mal aus einem Zug heraus, dann von einem Baum oder an Bord eines Schiffes, das den Fluss entlang gleitet. Die Episoden von Bewegung und Reise kontrastiert die Filmemacherin mit Interviews. So besuchte sie mehrere Märkte. Sie filmte eine Gruppe Rentnerinnen im Karl-Marx-Haus in Wien, ein Lehrerpärchen in Rumänien oder eine badische Bauersfrau.
Wenn man Leroys Dokumentation heute sieht, tut man dies zwangsläufig auch mit dem Blick des Nachgeborenen. Längst ist ihr Film nicht mehr nur Bericht, sondern selbst zu einem historischen Dokument geworden. Die Aufnahmen zeigen ein Europa, dass so nicht mehr existiert. Und doch sind viele der Themen, die die Porträtierten beschäftigen nach wie vor aktuell. Wenn ein Mann von den Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt, die so viele Menschenleben gekostet haben. Oder eine Familie sich an die Grenzsoldaten und ihre Angst in der Nacht erinnert, dann weckt das Assoziationen mit unserer Zeit. Mit Grenzfantasien der AfD, einem erstarkenden Nationalismus in Europa und den Verfolgungen von Minderheiten weltweit. Eigentlich passend für das Werk einer Regisseurin, die in der Gegenwart stets die Wunden der Vergangenheit aufspürte. Dicht ist sie mit ihrer Kamera an den gefilmten Personen. Häufig sind es alte Menschen, Frauen vor allem, die hier aus ihrem Leben erzählen. Viele haben eine Flucht hinter sich, einige leben noch immer im Exil. Als Leroy sie trifft haben sie die Hoffnung auf eine Rückkehr längst aufgegeben. So erinnern sie an die Großeltern von Lina Soualem in »Their Algeria«, einem weiteren Film dieses Festivals, der sich mit Migration und dem Leben in der Fremde auseinandersetzt.
JOSEF BRAUN
Ab 29.10. verfügbar auf CultureBase.org