
»Their Algeria« (Lina Soualem, ALG/F/CH 2020)
In »Their Algeria« befragt die Filmemacherin Lina Soualem ihre algerisch-stämmigen Großeltern nach deren Leben in Frankreich und der gemeinsamen Ehe. Dabei gelingt ihr das eindringliche Porträt zweier beeindruckender Menschen.
Nach 62 Jahren Ehe zieht Aicha aus dem gemeinsam Haus aus und mietet sich eine kleine Wohnung. Vier Kinder hat sie bis dahin großgezogen. Und den Alltag mit ihrem schweigsamen, menschenscheuen Mann geteilt. Jetzt möchte sie einen Neubeginn wagen. Die letzten Jahre ihres Lebens will sie dem Schweigen und der Vergangenheit entfliehen. Allzu weit entkommt sie freilich nicht. Kurz nach ihrem übereilten Auszug zieht ihr Mann in den Gebäudekomplex gegenüber. Er ist nicht sauer, dass seine Frau ihn verlassen hat, aber ohne sie kommt er nicht zurecht.
Aicha und Mabrouk Soualem sind die Großeltern der französischen Filmemacherin Lina Soualem. Aicha war gerade einmal fünfzehn Jahre als sie ihren Mann kennenlernte. Sein Vater suchte sie für Mabrouk aus. Eine arrangierte Ehe wie sie im Algerien jener Zeit üblich war. Kurz nach der Hochzeit verließen Aicha und Mabrouk das Land um im Frankreich der 1950er Jahre Arbeit zu finden. Es ist wenig was der Großvater seiner Enkelin über jene Zeit erzählt. Doch hinter den unvollendeten Sätzen lassen sich die Abgründe von Rassismus und Ausgrenzung erahnen, die der Mann in Frankreich erlebt haben muss. Bis zu seinem Lebensende blieb Mabrouk ohne die französische Staatsbürgerschaft.
»Their Algeria« ist ein sehr persönlicher Dokumentarfilm. Faszinierend ist wie hier in Gestalt der Enkelin und der Großeltern zwei Generationen aufeinanderprallen. Manchmal hat man den Eindruck, dass je drängender die Fragen der Filmemacherin nach der Vergangenheit werden, desto weiter ziehen sich die Großeltern zurück. Häufig brechen sie in Gelächter aus. Etwa bei der Frage, ob sie sich bei der Hochzeit geliebt hätten. Nur beim Betrachten alter Fotos verstummen sie. Der Anblick ihrer Mutter bringt die Großmutter gar zum Weinen. Sie und ihr Mann waren vor Jahrzehnten das letzte Mal in Algerien. Die Sehnsucht nach der Heimat, nach der Familie scheint tief in ihnen verschlossen. So tief, dass sie sich häufig von der Kamera abwenden, als wollten sie sich so vor ihrer Vergangenheit schützen.
Max Frisch prägte angesichts der Gastarbeiter in Deutschland und der Schweiz den Ausspruch, »Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen«. Eine ähnliche Situation wie die die Frisch beschrieb, galt auch für Frankreich. Nach dem zweiten Weltkrieg benötigten die Franzosen Arbeiter, die ihnen dabei halfen ihre Wirtschaft in Schwung zu bringen. »Their Algeria« porträtiert zwei dieser Menschen. Der Film zeigt das Leid, dass sie in der Fremde erlitten haben. Dass beide bis zum Ende dennoch ihr Lachen nicht verlieren, ist die schöne Pointe ihrer ansonsten oft melancholischen Biographien.
JOSEF BRAUN
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