DOK Leipzig 2019

Ahnung des Vergessens

Arbeitsmigration: »In Touch« zeigt das Hoffen und Sehnen der Zurückgebliebenen

Island galt einst den Wikinger als Hoffnung auf ein besseres und freieres Leben. In Scharen zogen sie aus der alten in die neue Heimat. Viele Menschen aus dem Ort Stare Jucha taten es ihnen nach. Ein Drittel der Einwohner des Masurendorfes sind in den letzten Jahrzehnten nach Island ausgewandert. Sie alle waren weniger bewegt von der Aussicht auf Vulkan- und Geysirlandschaften, sondern der auf Arbeit und Eigenheim. Zurückgekehrt nach Polen ist keiner von ihnen von ihnen. Wie sich die Zurückgebliebenen fühlen, wie sie Verbindung aufnehmen, das zeigt »In Touch«.

Der Film arbeitete mit zwei Ebenen. Auf der einen sind Szenen zu sehen, in denen die Dorfbewohner zu ihren Lieben Kontakt via Internet ausnehmen, sie sitzen vor Bildschirmen und skypen oder schreiben in Chats. Die zweite Ebene funktioniert künstlerischer: Regisseur Paweł Ziemilski hat in Island die Ausgewanderten gefilmt und projiziert diese Aufnahmen auf alle möglichen Flächen in Stare Jucha: Da werden Wohnzimmer mit Berglandschaften ausgefüllt, auf einer Turnhalle wogt das Meer, auf einer Hecke spielt der Enkel.

Da ist eine Sehnen zu vernehmen, ein Hoffen auf Rückkehr oder wenigstens einen längeren Besuch und leises sind manchmal auch Vorwürfe an die Neu-Isländer zu vernehmen. Die haben sich eingerichtet, arbeiten etwa als Polizistin oder Bauingenieur – auch ans Wetter haben sie sich angepasst und wenn es nur bekleidungstechnisch ist. Das vergrößert den Kontrast zwischen altem Leben und neuem. Viel Biografisches ist nicht zu erfahren, es geht dem Regisseur umso mehr um die unsichtbaren Bande, die Beziehungen über die Ferne, die er bildlich herausstellt. Gerade die Verdopplung der Situation durch die Projektionen erreichen in dieser Hinsicht eine große Wirkung. Wenn die Mutter die Projektion ihrer Tochter berührt, spricht das große Sehnen aus dieser Geste. Der Großvater spricht zum Enkelchen – das auch nur ein Einspieler ist. Zwei Frauen tanzen scheinbar miteinander. Hier erfährt das Wort Projektion eine zweifach Bedeutung, denn natürlich Projizieren die in Polen Verbliebenen ihre Vorstellungen auf die Szenen und ihre Verwandten.

Damit weitet der Film den Kreis seiner Betrachtungen, denn genau genommen geht es nicht nur um diese Gruppe Menschen, sondern an ihrem Beispiel werden die Grenzen der sozialen Netzwerke deutlich. Ja, man ist mit einander verbunden, auf Abruf »In Touch«. Aber es bleibt maschinenvermittelt, gefiltert, stumpf mit dem realen Kontakt verglichen. Wie durch Milchglas, abgedämpft, ja blass und verblassend wirkt diese Kommunikation gerade in den projizierten Bildern. Als ob sie schon die Ahnung des Vergessens enthalten, das Stare Jucha vielleicht einmal überfällt.

TOBIAS PRÜWER

In Touch
Land: Island, Polen, 2018, Regie: Paweł Ziemilski
Laufzeit: 61 min.

CineStar 6 / 29.10.2019 / 22:15
Polnisches Institut / 30.10.2019 / 20:00
Passage Kinos Wintergarten / 31.10.2019 / 10:00

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