Archiv 2018

So einsam die Nacht

»Nightwanderers« – Schöne Bilder und erschütternde Geschichten

Da ist dieses Bild gleich zu Beginn. Der Blick durch das Fenster eines Wohnwagens, hinaus auf eine nächtliche Tankstellenlandschaft. Verschwommene Lichter, die durch das Plastik der Scheibe gebrochen werden. Benjamin Rost erkundet in »Nightwanderers« auf der Autobahn das nächtliche (Süd-)deutschland.

Er hat seine, etwas mehr als einer Stunde dauernde Dokumentation recht klassisch angelegt. Nächtliche Impressionen wie die aus dem Wohnwagenfenster, oder einer hellerleuchteten Baustelle, wechseln sich ab mit Geschichten von den Menschen, die diese Nächte bevölkern. Vornehmlich an den Schnellstraßen der Republik. So wie die Frau, die ein Pornokino betreibt und spät in der Nacht durch die einzelnen Räume geht, in denen es von jedem Bildschirm stöhnt und sich unscharf Körper bewegen. Bis ein Bildschirm nach dem anderen abgeschaltet wird. Draußen steckt sich die Frau dann eine Zigarette an. Sie möchte nichts sagen.

Sex und Nacht stehen auch im Zentrum der berührendsten Geschichte der gesamten Dokumentation. Sie handelt von einem Mann, Mitte vierzig vielleicht, der sich mit einer App zum schnellen Sex, auf heruntergekommenen Autobahntoiletten, verabredet. Während der Fahrten von einer Stelle zur nächsten erzählt er Rost seine Geschichte. Dass sein Bruder sich als schwul geoutet habe, und dass seine Eltern das nicht haben verkraften können. Weswegen er sich nie geoutet hat. Ob er sich denn vorstellen könne, in der Nacht seine große Liebe zu finden, hakt Rost, den man im Film nie sieht, dessen Stimme nur hin und wieder zu hören ist, nach. »Mir wäre es lieber, ich würde jemanden im Supermarkt treffen und den dort kennenlernen als hier auf einem Parkplatz«. Die Einsamkeit, die aus solchen Sätzen spricht ist im ganzen Film spürbar. Bei den Zockern, die die Nacht durch, Bierflaschen in der Hand, mehrere Automaten auf einmal bedienen. Bei dem Mann, der mit einigen Jungen in die Felder geht, um Lagerfeuer zu machen. Und bei der ehemaligen Busfahrerin, die eine Krankheit in den Rollstuhl brachte und die jetzt auf Parkplätzen zwischen riesigen LKWs herumfährt und von damals träumt.
Insgesamt ist die Welt von »Nightwanders« eine eher männlich dominierte. Dabei sind die nächtlichen Begegnungen immer intim. Die Kamera nah dran an ihren Protagonisten. Ein filmischer Essay über die Menschen, über die Clemens Meyer in seinen Büchern so gerne schreibt. Dessen Titel »Die Nacht, die Lichter« hätte an dieser Stelle auch gepasst. Eine gelungene Dokumentation.

JOSEF BRAUN

»Nightwanderers«

Deutscher Wettbewerb | Deutschland | 2018 | Dokumentarfilm | 57 Minuten | deutsch | englisch Untertitel | Weltpremiere

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Originaltitel: Nachtwanderer

Land: Deutschland

Jahr: 2018

Sprache: deutsch

Untertitel: englisch

Laufzeit: 57 min.

Format: DCP

Farbe: Colour

Regie: Benjamin Rost

Produktion: Lennart Lenzing

Kamera: Leonhard Kaufmann

Schnitt: Janina Kaltenböck

Ton: Markus Rebholz, Oliver Kirschig, Lena Beck, Moritz Drath

https://filmfinder.dok-leipzig.de/de/film/?ID=19833&title=Nightwanderer

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