Archiv 2018

Dichterbriefe reloaded

»Die Geträumten« von Ruth Beckermann
In »Die Geträumten« lässt Ruth Beckermann, diesjähriger Ehrengast der DOK, zwei junge Menschen, Briefe von Paul Celan und Ingeborg Bachmann lesen.
Es gibt einen Satz von Westernregisseur John Ford, der auf die Frage, was denn im Falle eines Regengusses gedreht wird, geantwortet haben soll, »Die spannendste Landschaft, die ich kenne. Das menschliche Gesicht«. Das nimmt auch in Beckermanns Dokumentation großen Raum ein. Präziser, die Gesichter ihrer beiden Protagonisten. Die eine, Anja Plaschg, ist eine bekannte Musikerin. Der andere, Laurence Rupp, erfolgreicher Theater- und Filmschauspieler. »Die Geträumten« führt sie im Tonstudio zusammen, wo sie Briefe von Paul Celan und Ingeborg Bachmann einlesen.

Diese Briefe sind Zeugnis einer Dichterliebe, die die meiste Zeit vor allem über die Distanz funktionierte. Von 1948 bis zum Suizid Celans 1970 schrieben sie sich. Zwischendurch wechselten sie acht Jahre gar kein Wort mehr miteinander. Leicht war er nie der Kontakt zwischen dem Shoah Überlebenden Celan, dessen Mutter im KZ ermordet worden war, und der deutschen Bachmann, deren Vater Mitglied der NSDAP war.

Beide hatten stark mit sich selbst und der Welt zu kämpfen. Immer wieder vergleichen sie in den Briefen ihren Schmerz, fordern den anderen zu mehr Mitgefühl heraus oder beschweren sich, wo dieses, ihrer Meinung nach ausbleibt.

In zehn Tagen drehten Beckermann und ihr Team »Die Geträumten«. Immer am selben Ort, in den Studios des ORF.

Im Anschluss an die Vorstellung gestern Mittag, erzählt Beckermann vor gefüllten Reihen von der Idee, die hinter diesem Unterfangen steckt. »Ich wollte, dass die beiden Hauptdarsteller sich nicht kennen«, sagt sie. Der Aufnahmeraum als Experimentierfeld, in dem sich zwei junge Menschen begegnen, während sie die Briefe einer Dichterliebe lesen. Das ist eine der Grundideen des Films. Und so beobachtet man, neben den Hochs- und Tiefs in der Dichterbeziehung, auch wie sich das Verhältnis der Lesenden zueinander verändert. In den Rauchpausen, zusammen im Studio, lernen sie sich langsam besser kennen. Entsteht zwischen ihnen eine Nähe, die die riesigen Räume plötzlich in etwas sehr Intimes verwandelt.

Beckermann selbst sagt an diesem Mittag in Leipzig dazu, »ich wollte mit der Dokumentation zeigen, dass auch junge Menschen tiefe Gefühle haben. Dass die Gefühle keine anderen sind, nur weil sie sie in E-Mails oder Textnachrichten ausdrücken«.
Das ist ihr gelungen. »Die Geträumten«, der in Leipzig als Teil der Hommage an Beckermann gezeigt wurde, ist zu gleichen Teilen Verlebendigung des Briefwechselns und Dokument einer werdenden Beziehung zweier sich anfangs fremden Menschen. Eine wunderbar zärtliche Dokumentation.

JOSEF BRAUN

»Die Geträumten«

Hommage Ruth Beckermann | Österreich | 2016 | Dokumentarfilm | 89 Minuten | deutsch | englisch Untertitel

Originaltitel: Die Geträumten
Land: Österreich
Jahr: 2016
Sprache: deutsch
Untertitel: englisch
Laufzeit: 89 min.
Format: DCP
Farbe: Colour
Regie: Ruth Beckermann
Kamera: Johannes Hammel
Schnitt: Dieter Pichler
Ton: Georg Misch
Buch: Ruth Beckermann, Ina Hartwig

https://filmfinder.dok-leipzig.de/de/film/?ID=21199&title=Die+Geträumten

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